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Identitätsbehaupter. Kritik. Ein Akteurmodell, das sich behaupten kann?

In seiner Schrift „Handeln und Strukturen. Einführung in eine akteurtheoretische Soziologie“ (2000) stellt der Soziologe Uwe Schimank vier Akteurmodelle vor. Nach den Klassikern, also Homo Sociologicus und Homo Oeconomicus, sowie dem Emotional Man präsentiert er dem Leser noch ein weiteres Modell: „Ein noch weniger auf den Begriff gebrachtes Akteurmodell ist schließlich viertens das Modell des Identitätsbehaupters. Die Identität einer Person ist ihr Selbstbild; und es gibt Handlungen, die wir nur oder hauptsächlich ausführen, weil wir nach außen und uns selbst dokumentieren wollen, wie wir uns selbst sehen.“ (S. 14) Schimank gibt dazu ein Beispiel: „Das gilt z. B. für den Kriegsdienstverweigerer, dem sein Gewissen den Waffengebrauch verbietet und der dafür sogar gegen Normen – nämlich seine gesetzlich verankerte Pflicht zum Wehrdienst – verstößt und teilweise große persönliche Kosten auf sich nimmt.“ (S. 14)

Mit dem Identitätsbehaupter schickt Schimank ein weiteres Akteurmodell ins Rennen, dessen Spuren sich innerhalb des Schimankschen Werkes verfolgen lassen bis dessen Arbeit von 1981, die den Titel trägt „Identitätsbehauptung in Arbeitsorganisationen – Individualität in der Formalstruktur“.

Identität – Was ist das?

Dass der Identitätsbehaupter Identität behauptet, klingt trivial. Aber was ist das eigentlich, „Identität“? Der Antwort sei der Hinweis vorausgeschickt, dass man wenigstens zwei Richtungen unterscheiden kann, in die sich die Debatten um den Identitätsbegriff bewegen können.

Da ist einerseits der philosophische Diskurs, in dem man über Fragen wie dieser brütet: Ist ein Schiff, bei dem nacheinander jede Planke durch eine neue ersetzt wurde, noch mit dem Ursprungsschiff identisch? Oder sind beide Schiffe einander lediglich ähnlich? Identität im philosophischen Diskurs meint stets eine Beziehung (Relation), die zwischen zwei Objekten (den Relata) besteht, z. B. zwischen den zwei Schiffen.

Dieser Diskurs berührt und durchdringt einen zweiten, nämlich den soziologisch-psychologischen, in dem es ausschließlich um die Identität von Menschen bzw. Menschengruppen geht. Was versteht nun Schimank unter „Identität“? Seine Antwort: „Fragt man nun danach, worin die Identität einer Person besteht, stößt man auf deren Bild von sich selbst.“ (S. 108) Identität als Bild. Was ist dann das Original? Es ist die eigene Persönlichkeit: „Die Identität ist nicht so umfassend, vollständig und vielschichtig wie die Persönlichkeit, sondern verhält sich zu dieser wie eine … Skizze zu einem Ölgemälde.“ (S. 111)

Dreierlei Identitätsbeschreibungen

Schimank belässt es aber nicht bei dieser einen Vorstellung der Identität als Bild der Persönlichkeit. Er geht einen Schritt weiter und bringt den Begriff „Identitätsbeschreibung“ ins Spiel, das sind „Umschreibungen des eigenen Selbstbilds“ (S. 109). Wenn die Identität ein Bild der Persönlichkeit ist, dann ist eine Identitätsbeschreibung eben eine Beschreibung eines Bildes der Persönlichkeit. „Schaut man sich solche Identitätsbeschreibungen genauer an, stellt man fest, dass dabei drei Modi von Äußerungen benutzt werden:

– Im Zentrum stehen zumeist evaluative Selbstansprüche. Dies sind … die „konkreten Utopien“ der Person: ihre Vorstellungen darüber, wer sie sein und wie sie leben will.“ (S. 109)

– „Flankiert werden diese evaluativen Selbstansprüche von normativen Selbstansprüchen. Im Alltagsverständnis bilden letztere das Gewissen einer Person.“ (S. 110)

– „Relativiert werden die evaluativen und auch die normativen Selbstansprüche durch kognitive Selbsteinschätzungen. Diese betreffen die Fähigkeiten und Möglichkeiten einer Person, ihren evaluativen und normativen Selbstansprüchen gerecht zu werden, sowie ihr faktisches So-Sein im Vergleich zum Sein-Wollen und Sein-Sollen.“ (S. 110)

Halten wir fest: Es gibt erstens die Persönlichkeit (1). Es gibt zweitens die Identität als Bild der Persönlichkeit (2). Und es gibt drittens noch drei Arten der Identitätsbeschreibungen (3), nämlich Selbsteinschätzungen (3a) sowie Ansprüche, wie man sein will (3b) und wie man sein soll (3c).

Schimanks Konzeption enthält einige Ungereimtheiten:

1. Eine Beschreibung ist eine deskriptive Aussage, also eine Aussage, wie  oder was etwas ist. Das gilt auch für Identitätsbeschreibungen. Ein Selbstanspruch, sei er evaluativer oder normativer Art, ist aber keine deskriptive Aussage, sondern eine normative Aussage. Ein Selbstanspruch kann also keine Beschreibung sein, weder von der Identität, noch von etwas anderem.

2. Schimank baut sich mit seinen Differenzierungen und Abstufungen ein Begriffslabyrinth, aus dem er selbst nicht mehr herausfindet.  Sind die genannten Selbstansprüche (3b und 3c) Modi der Identitätsbeschreibungen (3) oder nicht vielleicht doch eher Teil der Identität (2)? Oder vielleicht gar der Persönlichkeit (1)? Im folgenden Zitat hievt Schimank diese Selbstansprüche (3b und 3 c) auf die Ebene der Persönlichkeit: (1) „Weiterhin ist festzuhalten, dass die Identität einer Person niemals auch nur annähernd die Gesamtheit ihres Sein-Wollens und –sollens in Relation zum So-Sein abbildet, sondern eine höchst selektive Selbstsimplifikation ist (…).“ (S. 111) Für Schimank ist die Identität (2) doch eigentlich Abbild der Persönlichkeit (1). Im Zitat ist nun davon die Rede, dass die Identität (2) ein – eingeschränktes, kein vollständiges – Abbild der Gesamtheit des Sein-Wollens (3b) und Sein-Sollen (3c) einer Person sei. Sind Sein-Wollen und Sein-Sollen nun also mit der Persönlichkeit identisch bzw. Teil dieser Persönlichkeit? Eigentlich ist diese Idee nicht verkehrt: Das Gewissen, als das sich die normativen Selbstansprüche äußern, als Teil der Persönlichkeit zu verstehen, erscheint durchaus plausibel. Plausibler zumal, als das Gewissen als einen Modus der Identitätsbeschreibung anzusehen.

In einem anderen Zitat sind die normativen Selbstansprüche (3b) nicht Teil der Persönlichkeit (1) oder Modi der Identitätsbeschreibung, (3) sondern sie bilden die Identität (2). Schimank schreibt, es seien „die evaluativen und normativen Selbstansprüche, die die kollektive Identität [d.h. die Identität von Gruppen, Organisationen etc.] konstituieren“. (S. 113)

Die klare Zuordnung der Selbstansprüche bleibt ein Problem, das Schimank ungelöst läßt.

Identitätsbedrohungen

Diese Unklarheit erschwert nun den weiteren Fortgang von Schimanks Argumentation. Denn wenn unklar bleibt, was er unter Identität versteht, bleibt auch unklar, was eine Bedrohung der Identität meint. Ist die Identität als Abbild (2) der Persönlichkeit bedroht? Oder ist die Identität als Dreiklang von kognitiver Selbsteinschätzung (3a) sowie evaluativen (3b) und normativen (3c) Selbstansprüchen bedroht? Schimank zufolge „lassen sich vor allem drei Typen von Identitätsbedrohungen unterscheiden: spezifische substanzielle Identitätsbedrohungen, indirekte Identitätsbedrohungen durch Existenzgefährdungen und schließlich -…– Identitätsbedrohungen durch Entindividualisierungserfahrungen.“ (S. 118) Schauen wir, was Schimank im Detail schreibt.

a. Spezifische substanzielle Identitätsbedrohungen

„Spezifische substanzielle Identitätsbedrohungen sind nachhaltige Nichtbestätigungen einzelner Bestandteile des Selbstbildes einer Person. Ich fühle mich beispielsweise zur Mathematik berufen und scheitere doch in der Schule fortwährend daran; …; ich bilde mir ein, dass alle Frauen in meiner Umgebung mich anhimmeln, und muß dann erfahren, dass ich beim anderen Geschlecht den Ruf eines arroganten Liebhabers habe.“ (S. 118) Schimank spricht von „einzelnen Bestandteilen des Selbstbildes einer Person“. Also: die Identität als Selbstbild (2). Welches sind diese Bestandteile? Es sind die normativen und evaluativen Selbstansprüche (3b, 3c) sowie die Selbsteinschätzungen (3a), als Beispiel nennt Schimank den „evaluativen Selbstanspruch, zur Mathematik berufen zu sein“ (S. 118). Auch hier zeigt sich die Konfusion, der Schimank nicht entkommt: Die Bestandteile der Identität als Selbstbild (2) sind die Selbstansprüche und Selbsteinschätzungen, die doch eigentlich Modi der Identitätsbeschreibungen (3) sein sollen.

b. Entindividualisierung

Im Zusammenhang mit der dritten Form der Identitätsbedrohung, der Entindividualisierung, ist folgende Bemerkung Schimanks interessant. „Solche Identitätsbedrohungen gibt es … für Personen auch erst in der modernen Gesellschaft. Denn hier wird die Person zum Individuum, nimmt ihre Identität die Form der Individualität an. Individualität als Identitätsform bedeutet zum einen, dass eine Person in ihrem Auftreten unverwechselbar und dadurch einzigartig wirkt. Zum anderen zeigt sich die Individualität einer Person darin, dass diese in ihrem Handeln trotz aller sozialen Einflüsse selbstbestimmt erscheint. Individualität ist also … selbstbestimmte Einzigartigkeit.“ (S. 122) Schimank zufolge „fühlt jeder moderne Mensch sich zutiefst in seiner Identität bedroht, wenn ihm diese Individualität nicht sozial bestätigt wird, sondern er – … – als „Massenmensch“ behandelt wird.“ (S. 122) Hierzu einige Anmerkungen:

– Wie kann die Identität (als Selbstbild (2)) bedroht werden, wenn Entindividualisierung doch lediglich eine Bedrohung der Individualität (als Teil des Fremdbildes) meint? Dass Entindividualisierung eine Bedrohung der Individualität darstellt, erscheint ja verständlich. Wie aber gelangt man von einer Bedrohung der Individualität zu einer Bedrohung der Identität? Indem man, wie Schimank es versucht, Individualität als Identität darstellt, die lediglich ihre Form geändert hat.

– Was aber bedeutet es, dass die Identität die Form der Individualität annimmt? In seiner Erläuterung zur Individualität wechselt Schimank auf einmal die Perspektive. Bislang ging Schimank von der Selbstperspektive aus. Es ist die Person, die sich ein Selbstbild von sich macht. Ausdrücklich weist Schimank darauf hin, dass er Identität nicht als Fremdbild verstanden haben will, das sich Andere von einer Person machen: „ Natürlich kann auch die Beobachtung einer Person von außen deren Identität konstruieren. Aber dieses Bild, das sich andere von dem Betreffenden machen, prägt dessen Handeln nur indirekt, nämlich als Reaktion auf das von diesem Fremdbild bestimmte Handeln der anderen ihm gegenüber.“ (S. 108, Fußnote 10) Nun aber, bei der Individualität nimmt Schimank genau diese Fremdperspektive ein: „Individualität als Identitätsform bedeutet zum einen, dass eine Person in ihrem Auftreten unverwechselbar und dadurch einzigartig wirkt.“ Auf wen wirkt die Person unverwechselbar? Auf sich oder auf andere? Auf andere, denn eine Person wird sich selbst wohl niemals mit einer anderen Person verwechseln. Individualität ist also ein Mosaiksteinchen des Fremdbildes, das Andere von einer Person haben. Wie kann Identität als Selbstbild die Form der Individualität als Teil des Fremdbildes annehmen?

Und schließlich:

– Wie passt zu alldem die Aussage, Individualität sei selbstbestimmte Einzigartigkeit. Ist Einzigartigkeit ein Teil des Selbstbildes? Oder des Fremdbildes? Oder ist Einzigartigkeit nicht vielleicht einfach eine Eigenschaft der Persönlichkeit?

– Wenn Individualität eine Identitätsform ist: Welche Identitätsformen gibt es außerdem?

Wenn das Ausmaß der konstruktiven Reinheit einen Gradmesser  darstellt für die Stärke dieser Konzeption, für ihre Fähigkeit, sich im Wettbewerb mit anderen Akteurmodellen zu behaupten,  dann steht zu befürchten, dass sich der Identitätsbehaupter in seiner bisherigen Konzeption nicht behaupten kann.  Änderungen sind unumgänglich.  Ein schlichtes Weiter-so, ein Trommeln und Werben für dieses Modell, reichen nicht aus. Es ist die Frage, ob sich Schimank aufmacht, um  sich dieser Aufgabe zu stellen.

Eine Alternative ist der Identitätsbehaupter à la Tajfel.

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